Das Opfer by John Katzenbach

Das Opfer by John Katzenbach

Autor:John Katzenbach
Die sprache: eng
Format: epub
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2006-01-14T16:00:00+00:00


Im Spätherbst ist nachmittags das Licht am Rande der Green Mountains von einer Klarheit, in der alle Gegenstände schärfere Konturen annehmen, bevor der Tag zunehmend früher verblasst. Catherine stand am Fenster vor ihrem Küchenspülstein und beobachtete Ashley links von ihr. Das Mädchen saß draußen hinter dem Haus, gehüllt in eine leuchtend gelbe Fleecejacke, am Rande einer gepflasterten Veranda. Hinter ihr erstreckte sich eine Weide, die bis zum Waldrand führte. Am Vortag waren sie nach Brattleboro gefahren und hatten Papier, eine Staffelei sowie Pinsel und Wasserfarben besorgt, und Ashley war jetzt in ein eigenes Gemälde vertieft, auf dem sie die letzten Lichtstrahlen einzufangen versuchte, die langsam über die Hügelketten wanderten und in den Kiefernzweigen verweilten. Catherine versuchte, Ashleys Körpersprache zu deuten; sie signalisierte sowohl freudige Erregung wie auch Frustration. Sie war entspannt, sie genoss den Moment, in dem sie den Pinsel in der Hand hielt und sah, wie sich die Farben vor ihren Augen entfalteten. Catherine kam plötzlich der Gedanke, dass die junge Frau und ihr Gemälde den gleichen Vorgang durchmachten: Sie nahmen Gestalt an.

Nachdem Ashley mit dem Bus eingetroffen war, hatten sie den größten Teil des Abends damit verbracht, zusammen Tee zu trinken und darüber zu reden, was passiert war. Catherine hatte mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und wachsendem Unbehagen zugehört.

Sie blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie Ashley einen langen blassblauen Streifen Wasserfarbenhimmel auftrug. »Es ist nicht richtig«, sagte sie laut.

Sie merkte, wie ihr die Angst hochkroch, Ashley könnte sich – so ihr diffuses Gefühl – von O’Connell irgendwie infizieren lassen. Sie fürchtete, das Mädchen könnte sich am Ende wegen der Verhaltensweise eines einzigen Mannes gegen alle Männer wenden.

Catherine hielt sich am Rand des Spülsteins fest. Sie sah sich außerstande, die düstere Vorstellung ganz zu Ende zu denken. Sie wollte sich den Wunsch nicht eingestehen: Möge Ashley nicht werden wie Hope. Als sie merkte, wie sich diese Wolke über ihre Stimmung legte, war sie wütend auf sich, denn sie liebte ihre Tochter. Hope war intelligent. Hope war schön. Hope hatte Charme. Hope war für andere eine Quelle der Inspiration. Hope holte aus den jungen Leuten, mit denen sie arbeitete und die sie trainierte, das Beste heraus. Hope hatte alles, was sich eine Mutter an ihrer Tochter nur wünschen konnte, mit einer einzigen Ausnahme, und die türmte sich wie ein Berg vor Catherine auf, den sie nicht überwinden konnte. Während sie durchs Fenster ihre – ja, was? Nichte? Adoptivenkelin? – betrachtete, kam sie über ihre Ängste nicht hinweg. Was Catherine in diesem Moment nicht erkannte, war die Tatsache, dass sie sich mit den vollkommen falschen Ängsten plagte.



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